Architektur und Städtebau

Den Lärmschutz als Antrieb
statt als Hemmnis begreifen!

Je brisanter ein Thema in der Architektur ist, umso grösser sind in der Regel die Zielkonflikte mit anderen gesellschaftlichen Anliegen. Beim Lärmschutz zeigt sich das deutlich: Gesundheitlich notwendige Lärmschutzmassnahmen kollidieren heute in urbanen Räumen mit der raumplanerisch gewollten Verdichtung nach innen, aber auch mit der Bereitstellung und Sicherung kostengünstigen Wohnraums und dem Bestreben, kompakte, energieeffiziente Gebäude zu bauen. Die Beziehung dieser Zielsetzungen ist verzwickt:  Je dichter wir bauen – funktional wie räumlich –, umso grösser wird die Lärmbelastung und damit die Notwendigkeit, die Bewohnerinnen und Bewohner zu entlasten. Ordnen wir jedoch ausschliesslich lärmunempfindliche Räume zu Strassen an, kann eine qualitätsvolle Verdichtung nach innen mit lebendigen Stadträumen nicht gelingen.

Auswege aus dem Dilemma

Noch ist nicht absehbar, ob und wann der Lärm ausreichend an der Quelle gemindert werden kann, wie es die Gesetzgebung eigentlich vorsieht. Beim heutigen Verkehrsaufkommen reicht dafür an vielen Stellen selbst die Kombination von Temporeduktion, lärmarmem Belag und Elektromobilität nicht aus. Vorläufig müssen Architektinnen und Städtebauer also mit den Mitteln ihrer Disziplin Auswege aus dem Dilemma finden. Wie kann das gelingen?

Um sich aus Zielkonflikten zu befreien, reicht es selten, Kompromisse einzugehen. Guter Lärmschutz kann nicht heissen, «nur» die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten – was an sich schon komplex ist. Vielmehr sollten die Entwürfe das Thema selbstverständlich einschliessen. Und es im besten Fall als Chance nutzen, Neues auszuprobieren. Vielleicht erweisen sich dann auch Massnahmen als sinnvoll, die in dieser Form gar nicht gefordert werden, aber zu einem gesamtheitlich besseren Lebensumfeld führen. Nicht selten lässt sich eine gute akustische Gestaltung sogar mit anderen Anliegen verknüpfen: Eine Umgebung mit Bäumen, entsiegelten Oberflächen und Wasser beispielsweise, ist sowohl ökologisch als auch akustisch wünschenswert – und wirkt sich nicht zuletzt auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen aus.

In den folgenden Themenbereichen erkennen wir Chancen für einen wirksamen Lärmschutz, die zugleich als Antrieb für gute Entwürfe dienen können.

Siedlung Buchegg, Zürich   © Johannes Marburg

Die akustische Transformation der Stadt gestalten

Die Gestaltung des Lebens- und Stadtraums bietet die Chance, Zwischen- und Innenräume, Bewegungs- und Ruheräume, Kollektiv- und Individualinteressen sowie Bestand, Transformation und Neubau zusammen zu denken. Das passiert heute in der Regel nicht mehr auf der grünen Wiese, sondern an Orten, wo schon Lärm und Stadt vorhanden sind. Die grosse Herausforderung besteht also darin, das Vorgefundene aufzugreifen und mit gezielten Eingriffen zu stärken. Dazu genügt es nicht, den Ort nur visuell zu erfassen – allzu oft wird unser Zugang zu städtebaulichen Aufgaben von Idealbildern, unzähligen Anforderungen und einer visuellen Dominanz in der Erfahrung von Stadträumen geprägt. Sollen ganzheitlich qualitätsvolle, reichhaltige Lebensräume entstehen, müssen wir die Orte künftig auch bewusst hören.

Ausgehend vom Status Quo sollen städtebauliche Konzepte aber auch offen bleiben für künftige Bedürfnisse. Mit Blick auf das Bauen an lärmbelasteten Lagen bedeutet das auch, die Zukunftsperspektive einer klimafreundlichen, weniger lärmintensiven Mobilität zumindest mitzudenken.

Wohnüberbauung Brunnmatt-Ost in Bern    © Walter Mair

Bündeln und Entlasten als Grundsatz

Ein vielbeachtetes Konzept zur Transformation der Stadt sind die Superblocks aus Barcelona. Durch den Zusammenschluss von jeweils neun Häuserblocks und die Verbannung des motorisierten Verkehrs aus den Binnenräumen soll im überhitzten, feinstaub- und lärmbelasteten Stadtzentrum der Anteil an Grün- und Begegnungsräumen erhöht, die Lärmbelastung gesenkt und so die Lebensqualität verbessert werden. Nicht alle Stadtstrukturen eignen sich für diese Konzeption, doch das Beispiel zeigt: In der Reorganisation der Bewegungsräume für alle Verkehrsteilnehmenden liegt eine grosse Chance für die Stadtentwicklung. Dabei bedürfen die ruhigen wie die lauten Räume der gleichen gestalterischen und planerischen Sorgfalt.

Kräftige, gefasste Strassen können den motorisierten Verkehr bündeln. Darin liegt ein zentraler Grundsatz der Lärmbekämpfung. Gefasste Strassen können aber zugleich attraktive Stadt- und Erfahrungsräume sein, wenn daneben auch Dichte und Interaktion entsteht. Da, wo schon Verkehr ist, sollen möglichst auch Läden, Gastronomie und die Infrastruktur des Alltags verortet sein. Erst wirklich urbane Dichte schafft die Voraussetzungen für eine Stadt der kurzen Wege und damit für weniger Autoverkehr.

Die Anordnung öffentlicher und kommerzieller Nutzungen zur Strasse hin kann auch in spezifischen Gebäudetypen münden, indem beispielsweise vorgelagerte Sockelbauten die Wohnungen in den Obergeschossen vor dem Lärm abschirmen. Denn innerstädtische Strassenräume ohne Wohnungen zu denken, ist wenig attraktiv: Die Zuwendung von Wohnräumen in den Obergeschossen erzeugt Sicherheit und Geborgenheit im öffentlichen Raum. Menschen, die weniger mobil sind, nehmen aus ihrer Wohnung an der Dynamik des öffentlichen Lebens teil. Und nicht zuletzt würden es viele vermissen, an pulsierenden Strassenräumen zu wohnen. Ein bewusster Umgang mit dem Weg nach Hause, der Adressierung, der Gestaltung von Fassaden und Schwellenräumen ist also unumgänglich, um diese akustisch belasteten Strassenräume durch die Architektur positiv zu beeinflussen.

Wohnsiedlung Selnau, Zürich   © Walter Mair

Vernetzte Raumvielfalt schaffen

Im Gegenzug dienen verkehrsberuhigte Zonen der Ruhe und nachbarschaftlichen Begegnung. Laute Orte mit einer hohen Nutzungsdichte ermöglichen andere Formen der sozialen Interaktion als ruhige Aussenräume. Umso spannender ist es, sie nacheinander zu durchschreiten oder aus dem einen Raum in den anderen zu blicken. Die vernetzte Vielfalt der Erfahrungs- und Begegnungsorte macht doch Stadt aus!

Indem wir das Verhältnis der Räume zueinander, die Übergänge und Blickbezüge bewusst gestalten, entsteht atmosphärische Dichte und ein reichhaltiges Wohnumfeld. Es bedarf dazu einer Durchlässigkeit zwischen Bauten, ohne dass der Schall in die Tiefe des Raumes vordringen kann. Im Projekt «Wohn- und Gewerbesiedlung Guggach» ist es beispielsweise gelungen, durch geschicktes Versetzen zweier Scheibenbauten, den Lärm abzuhalten und zugleich den Blick in den neuen Quartierpark in zweiter Reihe freizugeben. Bei grösseren Überbauungen, wie etwa der Siedlung Zwicky Süd in Dübendorf, kann ein Kranz aus schlanken Bauten die inneren Bereiche vor Lärm schützen. Damit das funktioniert, ohne dass solche Grossprojekte zu städtebaulichen Inseln werden, muss die Beziehung zwischen Innen und Aussen aktiv gestaltet werden.

Siedlung Zwicky-Süd, Dübendorf    © Andrea Helbling

Die Diversität der Lebenswelten für unterschiedliche Wohnangebote nutzen

Die Vorstellung davon, wie wir leben und wohnen möchten, entwickelt sich in den letzten Jahren dynamisch und divers. So werden gesellschaftlich tief verankerte Konventionen zum Wohnen auf wohltuende Art durchgerüttelt. Die Vielfalt der Lebensmodelle reicht längst weit über die Kleinfamilie hinaus. Umso vermessener scheint es, alle Menschen auf die gleiche Art vor der lauten und pulsierenden Stadt schützen zu wollen. Vielmehr sollte man die Auseinandersetzung mit dem Lärmschutz als Gelegenheit nutzen, Raumbeziehungen zu hinterfragen und an einem vielfältigen Wohnungsangebot für unterschiedliche Ansprüche und Bedürfnisse zu arbeiten. Befragungen mit Lärmbetroffenen ergaben, dass Wohnqualitäten wie etwa der Sonnenstand, die nahe Umgebung und der Wohnungszuschnitt in Abwägung zur Lärmbelastung individuell unterschiedlich bewertet und gewichtet werden. Eine intensivere Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten unterschiedlicher Menschen wäre erhellend, um den Entwurf näher an den Gebrauch heranzuführen. Diese Auseinandersetzung bietet sich beispielsweise im Rahmen von Umbauprojekten an bewohnten Wohnhäusern an.

Wohnhaus Freihofstrasse, Zürich | Plan Regelgeschoss: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten

An die Grundrissforschung der letzten Jahre anknüpfen

Die Grundrissforschung hat in den letzten Jahren unzählige Lärmschutz-Typologien hervorgebracht – von Wohnungen mit zweigeschossigen Räumen zur Strasse oder mit Lüftungsatrien über dünne Gebäuderiegel mit durchgesteckten Wohn-Esszimmern bis hin zu Gebäuden mit Höfen oder in Form eines Kamms. Zwischenklimazonen oder verglaste Schwellenräume dienen als Lärmpuffer und räumliches Zusatzangebot. Nutzungsoffene Grundrisse überlassen es den Bewohnerinnen und Bewohnern, ob sie lieber zur ruhigen oder zur sonnigen Seite wohnen möchten.

Was kann die produktive Auseinandersetzung mit dem Lärmschutz noch hervorbringen?

Die Integration von grosszügigen privaten Aussenräumen ins Gebäude könnte einen Beitrag zur Lebensqualität in der verdichteten Stadt leisten. Dank solchen integrierten Gärten liesse sich allenfalls auch lärmabgewandt lüften.

Könnten sich Wohnungen mit «atmenden» Raumstrukturen tagsüber grosszügig zu beiden Seiten öffnen, um am städtischen Leben teilzuhaben, und sich nachts mit einer Doppelflügeltür oder Faltwand zur Lärmseite schliessen lassen? Vielleicht machen vereinzelt auch ruhige Rückzugsnischen in der Wohnung Sinn. Möchten wir in gedämpften Alkoven schlafen, wenn um uns herum das Leben tobt?

Besonders herausfordernd ist die Frage, wie im Bestand oder im Neubau Verbesserungen für die Menschen erreicht werden, die sich ihr Wohnumfeld aufgrund von wirtschaftlichem Druck gar nicht aussuchen können. Der Entwicklung von wirksamen, aber kostengünstigen Lärmschutzmassnahmen kommt daher eine besondere gesellschaftliche Relevanz zu. Nicht als Lösung, aber als ergänzendes Angebot könnten Ruhe- und Ausgleichsräume im Wohnumfeld Entlastung im Bestand bieten. Sie werden umso wichtiger, wenn Menschen auf geringer Fläche in grösserer Zahl zusammenleben.

Wohnhaus Allenmoosstrasse, Zürich    © Meier Hug Architekten

Raumakustik konstruieren

Das Thema Raumakustik spielt im Entwurf in der Regel nur dann eine Rolle, wenn es um Räume mit hoher Personenbelegung geht – etwa Konzertsäle, Restaurants oder Schulzimmer. Im Wohnungsbau beschäftigen uns die Schalldämmwerte einer Wandkonstruktion häufiger, als das akustische Zusammenwirken von Materialien, Proportionen und Strukturen. Was passiert, wenn wir die Absorptionseigenschaften von Materialien, den Reflexionswinkel von Formen und das akustische Zusammenspiel von Strukturen im Entwurf berücksichtigen? Resultieren daraus ganz eigenständige, besonders wohnliche Räume?

Die gleichen Fragen stellen sich auch bei der Konstruktion und Gestaltung der Fassaden: Plastische Fassaden und unterschiedlichen Materialien schützen zwar nicht vor Lärm, aber sie führen zu mehr akustischer Vielfalt im Stadtraum. Der bewusste Einbezug der Akustik kann also abwechslungsreiche und ausdrucksstarke Architektur fördern. Auch die Zweiseitigkeit – laut und ruhig – kann im architektonischen Ausdruck ihre Entsprechung finden. Während sich beispielsweise Vordächer und seitliche Erker bei geringer Überschreitung der Grenzwerte bewähren können, mag es auf der ruhigen Seite sinnvoll sein, möglichst viele private Aussenräume anzubieten und vor dem Alltagslärm der Nachbarschaft zu schützen. So öffnet sich das Haus im Idealfall allen Seiten auf unterschiedliche Weise.

Und auch hier greifen Klima und Akustik ineinander: Unbeheizte Zwischenklimazonen können als energetischer und akustischer Pufferraum das Wohnangebot erweitern, ohne die Kompaktheit der Fassade zu beeinträchtigen. Je nach Jahreszeit öffnen und schliessen sich diese Räume und treten so in einen Dialog mit dem Stadtraum. Vorgelagerte Bauteile spenden schattige Schwellenräume und erzeugen Plastizität. Begrünte Fassaden wirken kühlend und gleichzeitig absorbierend. Schallharte Oberflächen reflektieren dagegen oft nicht nur den Lärm, sondern auch die Wärme zurück in den Stadtraum.

Alterswohnungen im Weingarten, Rüschlikon   © Roger Frei

Die Regeln der baulichen Praxis mitgestalten

Nicht all diese Potenziale lassen sich in der gültigen Bewilligungspraxis umsetzen. Die Handlungsspielräume innerhalb eines konkreten Projekts sind selten gross. Dennoch wollen wir an dieser Stelle vor allem Lust darauf machen, sich dem Lärmschutz ganzheitlich sowie mit entwerferischer und konstruktiver Freude zu widmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Forschungsfeld Entwurf auch Erkenntnisse und neue Spielräume in die Bewilligungspraxis zurückwirft und so Entwurf, Beurteilung und Qualitätssicherung sich in den nächsten Jahren gegenseitig befruchten. Wenn es gemeinsam gelingt, mit spannenden Projekten neue Erkenntnisse und Strategien für das Bauen im Lärm und mit dem Lärm zu entwickeln, dann profitiert nicht allein der Gesundheitsschutz, sondern auch die Qualität von Architektur und Stadtraum von dieser Auseinandersetzung.